Aufarbeitung erst nach Tod der Akteure

von Martin Schuck

Martin Schuck

Am 27. Januar sind es 70 Jahre, dass das Konzentrationslager Auschwitz befreit wurde. Das Kriegsende kurz danach bedeutete auch die Befreiung Deutschlands und großer Teile Europas von der Herrschaft der Nationalsozialisten. Den Deutschen war über die juristische Ahndung der begangenen Verbrechen hinaus die Aufgabe gestellt, jene Geschichte von Schuld und Versagen aufzuarbeiten, die es ermöglicht hatte, dass eine gebildete Bevölkerung bereit war, innerhalb kürzester Zeit alle zivilisatorischen Standards über Bord zu werfen.

Die Kirchen zehrten lange von ihrer Einstufung als weitgehend unbelastete Organisationen durch die Siegermächte. Zwar wurden einzelne Pfarrer und Theologieprofessoren aus dem Dienst entfernt, aber insgesamt konnten die Kirchen nach 1945 ihre alte Ordnung wiederherstellen. Mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945 gelang es dem deutschen Nachkriegsprotestantismus sogar, sich pauschal auf der Seite des Widerstands zu verorten: Man habe zwar gegen den Nationalsozialismus gekämpft, klage sich aber an, dass man nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt habe.

Den frühesten Versuch, die Vorgänge innerhalb einer Landeskirche zwischen 1933 und 1945 darzustellen, unternahm der pfälzische Oberkirchenrat Richard Bergmann mit seiner 1960 veröffentlichten dreibändigen „Documenta“. Mit dieser kommentierten Dokumentensammlung legte er den Grundstein für weitere Untersuchungen. Trotzdem dauerte es noch fünf Jahrzehnte, bis die pfälzische Landeskirche mit einer groß angelegten Gesamtdarstellung ihrer Geschichte im Nationalsozialismus beginnen sollte.

Allerdings wäre es verfehlt, der Landeskirche Untätigkeit vorzuwerfen. In der Vergangenheit wurden wichtige Zeichen gesetzt, etwa als 1995 das besondere Verhältnis zum Judentum in der Kirchenordnung festgeschrieben wurde. Auch gab es immer wieder Aufsätze und Buchveröffentlichungen, in denen viele Einzelaspekte zum Thema Kirche und Nationalsozialismus erforscht wurden. In den 1980er Jahren schrieben mehrere Theologiestudenten Examensarbeiten zu diesem Thema, und 1997 erschien eine voluminöse Doktorarbeit über evangelische und katholische Pfarrer in der Pfalz während des Nationalsozialismus.

Es fällt auf, dass die historische Forschung erst richtig in Schwung kam, als die Hauptakteure der damaligen Zeit nicht mehr lebten. Bis in die 1980er Jahre hinein gab es eine rege Geschichtsschreibung der Zeitzeugen, die, ganz auf der Linie des Stuttgarter Schuldbekenntnisses, ihre eigene Rolle als Gegner des Regimes darstellten; Parteigänger und Mitläufer meldeten sich selten zu Wort. Vermutlich ist eine objektive Beurteilung der Verstrickungen in den Nationalsozialismus erst jetzt möglich, wo nicht mehr auf noch lebende Personen Rücksicht genommen werden muss.

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