Ganz Europa ist jetzt gefordert

von Wolfgang Weissgerber

Wolfgang Weissgerber

Monatelang hat ein einziges Thema die Medien dominiert: Griechenland. Das Schimpfwort der „Pleite-Griechen“ wurde zum Inbegriff einer unfähigen Staatsführung und reform­unwilligen Gesellschaft. Doch dann kamen die Flüchtlinge in Massen, und seither beherrschen sie die Schlag­zeilen und Sendeplätze.

Alexis Tsipras kann nun aller Voraussicht nach mit seinem rechtspopulistischen Koalitionspartner weiterregieren. Anders als in seiner ersten, siebenmonatigen Amtszeit hat er mit seiner linken Syriza-Partei nun ein Mandat der Wähler für seine Politik. Zu Jahresbeginn war er ja angetreten, sich dem Spardiktat der europäischen Partner zu widersetzen – und setzte es dann weitgehend um. Das spaltete die Partei, trieb den schillernden Finanzminister Giannis Varoufakis zum Rücktritt und kostete Tsipras die parlamentarische Mehrheit.

Politik mit den Stimmen der Opposition gegen die eigene Partei durchsetzen – das hatte sich in der jüngeren europäischen Geschichte erst ein Regierungschef getraut. Gerhard Schröder riskierte einst seine Kanzlerschaft mit der „Agenda 2010“, doch das Glück der Wiederwahl war ihm nicht vergönnt. Tsipras bleibt es erspart, als glückloser, gescheiterter Befehlsempfänger der europäischen Geldgeber in die Geschichte einzugehen. In künftige Verhandlungen geht er gestärkt.

Einen Meilenstein aber hat Tsipras’ Regierung ausgerechnet in der Flüchtlingspolitik gesetzt. Sie verschaffte einem häufig missachteten griechischen Gesetz Geltung, wonach Einwanderer nicht länger als sechs Monate in Lagern festgehalten werden dürfen. Mit der Unterbringung und Ernährung zigtausender Flüchtlinge ist das Land aber vollkommen überfordert – und lässt es daher einfach bleiben.

Unter den gewaltigen Lasten, die Griechenland drücken und die es sich zum Großteil selbst zuzuschreiben hat, sind die Flüchtlinge zwar nicht die schwerste. Doch bei keinem Thema hat Europa die Griechen derart ­alleinegelassen wie bei diesem. Das muss sich Tsipras, der seine neue Mehrheit nicht mehr nur einem lauten „Nein“ zu Europa verdankt, nun nicht länger gefallen lassen.

Nach den Dublin-Abkommen müssen Flüchtlinge dort Asyl beantragen, wo sie zuerst den Boden der Europäischen Union betreten. Das geschieht schon aus geografischen Gründen vorwiegend in Griechenland, Italien und Malta folgen mit Abstand, über die Meerenge von Gibraltar trauen sich nur wenige. Doch das Dublin-Konzept ist unter der Wucht der Wirklichkeit zerbröselt. Niemand denkt mehr ernsthaft daran, Flüchtlinge in das Erstaufnahmeland zurückzuschicken.

Griechenland winkt durch, Ungarn und Kroatien machen ihre Grenzen nach Belieben auf und zu, und Deutschland zeigt guten Willen. Doch ganz Europa ist gefordert. Eine selbstbewusste Regierung in Athen wird die Europäer jetzt an ihre gemeinsame Verantwortung erinnern.

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