Europa scheitert an seinen Nationalstaaten

von Klaus Koch

Klaus Koch

Es ist nicht lange her, da waren die Flüchtlinge in Europa ein Problem Griechenlands und Italiens. Die Länder ohne oder mit wenig EU-Außengrenze zogen sich aufs geltende Recht zurück. Das Land, in dem ein Fremder erstmals europäischen Boden betritt, ist zuständig. Die anderen Länder, darunter auch Deutschland, lehnten sich zurück und rüffelten allenfalls die betroffenen Länder, weil sie organisatorisch mit ihrem Flüchtlingsproblem nicht zurechtkamen. Solidarität gab es wenig. Das rächt sich. Jetzt fordert Deutschland vergeblich Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen.

Die Flüchtlingskrise zeigt beispielhaft, in welch schlechtem Zustand Europa ist. Der Kontinent, in dem der Nationalstaat erfunden wurde, droht an nationalstaatlichem Denken zu scheitern. Je mehr die weltweiten Probleme den Nationen auf die Pelle rücken, desto stärker suchen diese ihr Heil im Egoismus. Der viel zitierte Ausspruch des französischen Politikers Charles de Gaulle hat Konjunktur: Staaten haben keine Freunde, nur Interessen. So haben Polen und Ungarn durchaus Interesse, Geld aus Europa für ihre Infrastruktur zu bekommen. Doch ihre Freundschaft mit Europa hört auf, wenn demokratische Mindeststandards eingefordert werden oder andere Länder als sie selbst Hilfe brauchen. Europa droht zunehmend zu einem Staatenbund zu verkommen, in dem 28 Länder versuchen, mit geringem Einsatz möglichst viel Nutzen zu erzielen.

Das ist kein zukunftsfähiges Modell. Längst sind es Vielvölkerregionen, die weltweit Einfluss gewinnen, und nicht mehr Gebilde, in denen ein einzelnes Volk sich innerhalb enger staatlicher Grenzen abschottet. Südostasien ist eine solche Weltregion, ebenso Lateinamerika oder der Vielvölkerstaat Indien. Und die westliche Supermacht USA war schon immer ein Staat mit vielen Völkern. Nur die 500 Millionen Europäer fallen zurück in die Kleinstaaterei und werden dadurch mittelfristig an wirtschaftlicher und politischer Macht einbüßen.

Nun ist es politisch blauäugig anzunehmen, dass sich Franzosen, Deutsche, Polen und Italiener demnächst in den Vereinigten Staaten von Europa so organisieren, wie es die Einwohner von Texas oder Kalifornien in den USA tun. Aber die Länder Europas müssen dennoch ihre nationalen Hinterhöfe verlassen. Über die Richtung in der Außen-, Wirtschafts-, Finanz- oder Sozialpolitik dürfen nicht einzelne Staaten miteinander streiten. Dann wird es immer heißen: Die Großen setzen sich durch, die Kleinen müssen mitlaufen. Es ist Zeit für schlagkräftige europäische Institutionen, in denen nicht Nationen, sondern demokratisch legitimierte Politiker entscheiden. Und das per Mehrheitsbeschluss und parlamentarisch kontrolliert. Das würde den Kräften, die in Europa einen Rückzug ins Nationale wollen und die alten Identitätsdebatten führen, ein plurales und aufgeklärtes Demokratiemodell entgegensetzen.

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