Glaube und Vernunft im deutschen Pietismus

von Klaus Koch

Klaus Koch

Wenn eine Bewegung sich bedrängt fühlt und zu einer verschwindenden Minderheit zu werden droht, besteht die Gefahr, dass sie sich radikalisiert und aufspaltet. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war dies in Westdeutschland am Beispiel des Kommunismus zu beobachten. Aus der einst stolzen kommunistischen Partei wurden unzählige sogenannte K-Gruppen, die sich rigide voneinander abgrenzten, in kleinsten Zirkeln völlig unverständlich die reine Lehre diskutierten, sich dadurch marginalisierten und jeglichen Einfluss verloren.

Nun ist kaum eine Bewegung weiter vom Kommunismus entfernt als der deutsche Pietismus. Doch die prekäre Ausgangslage ist vergleichbar. Die Kirchen verlieren insgesamt an Bedeutung. Da haben es Positionen innerhalb dieser Kirche, die einer Mehrheit kaum noch vermittelbar sind, besonders schwer. Natürlich ist für evangelische Christen die Bibel der zentrale Punkt ihres Glaubens. Doch der Umgang mit der Heiligen Schrift ist umstritten. Der ehemalige pfälzische Kirchenpräsident Eberhard Cherdron warnte vor Jahren auf einem Jahresfest des Gemeinschaftsverbandes, dass es Menschen gebe, die die Bibel so lesen, wie andere Löcher graben würden. Je tiefer man komme, desto enger werde es. Auch der Umgang mit Homosexualität, nicht gerade ein zentrales biblisches Thema, sorgt immer wieder für Irritation. Manche Pietisten oder Evangelikale konzentrieren sich so stark auf den kirchlichen Umgang mit homosexuellen Menschen, als sei dies der Lackmustest, der wahre von falschen Christen unterscheide.

Michael Diener, dem Präses des Gnadauer Verbandes, ist diese Verengung auf sexualethische Fragen schon länger ein Dorn im Auge. „Dass im Mittelmeer Flüchtlinge ertrinken, geht vielen Evangelikalen nicht so nah wie die persönlichen Lebensverhältnisse des Bundespräsidenten“, sagte er vor einiger Zeit. Diener, bis 2009 Dekan in Pirmasens, will damit wohl nicht Grundpositionen des Pietismus wegräumen. Vielmehr will er verhindern, dass sich theologisch Konservative in verbitterten Debatten um wenige, gesellschaftlich und theologisch eher unbedeutende Fragen aufreiben.

Doch das ist nicht leicht. Dieners Gegner um den ehemaligen „Pro Christ“-Redner Ulrich Parzany sehen sich selbst als den heiligen Rest eines ansonsten lau und weltgefällig gewordenen Christentums. Sie wollen nicht diskutieren, sie wollen nichts weniger, als vermeintliche Wahrheit bewahren und Irrlehren entlarven. Doch wer den Glauben von der kritischen Vernunft und der lebensfreundlichen Zuwendung zur Welt trennt, macht ihn für eine große Mehrheit fremd und unbrauchbar. Es ist Diener und seinen Mitstreitern deshalb zu wünschen, dass sie dies verhindern. Dann bleibt der Pietismus das, was ihm der EKD-Cheftheologe Thies Gundlach zuerkannt hat: „eine Rose im Garten der EKD, schön anzusehen, oft auch mit wild wuchernden Stacheln.“

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