Nationale Egoismen und politische Vernunft

von Wolfgang Weissgerber

Wolfgang Weissgerber

Wir haben es geschafft. Allerdings anders, als Kanzlerin Angela Merkel es im September meinte. Denn es ist vorbei. Jetzt kommen kaum noch Flüchtlinge. Die Notaufnahmelager werden aufgelöst, die Vereine können zurück in die Sporthallen. Alles wird gut? Oh nein, nichts wird gut. Allenfalls haben wir in Europa nun ein wenig Ruhe. Vorübergehend. Die Schlepper, denen mit den jüngsten Verabredungen ja das Handwerk gelegt werden soll, werden Mittel und Wege finden und sich noch besser bezahlen lassen, um Menschen nach Europa zu schleusen.

An den Ursachen, warum Menschen alles aufgeben und ihre Heimat verlassen, hat sich ja nichts geändert. Der Krieg in Syrien geht weiter, Irak wird immer wieder vom Terror erschüttert, auch Pakistan und Afghanistan produzieren Opfer um Opfer. Der IS, Boko Haram und Schabab metzeln in Afrika ebenfalls wahllos Menschen nieder. Europa aber schottet sich ab, schließt die Festung, verrammelt alle Türen. Der schmutzige Deal mit der Türkei hält uns die Leidtragenden der Barbarei vom Leib. Die Europäische Union hat ihre Werte und Ideale verraten.

Die deutsche Delegation mit Kirchenpräsident Volker Jung ist mit bestürzenden, erschütternden Eindrücken und Erlebnissen aus Idomeni zurückgekehrt. Der griechische Grenzort ist auf ewig verknüpft mit der Schande Europas. Frauke Petry von der AfD kann sich freuen: Nun muss die Polizei an den deutschen Außengrenzen nicht, wie sie es vorschlug, auf Flüchtlinge schießen. Das erledigt der Frontstaat Mazedonien für uns. Bislang nur mit Tränengas.

Immerhin, die Kanzlerin hat wenigstens versucht zu helfen. Auch Merkel weiß, dass Deutschland und Europa nicht alle herbitten können, die auf dieser Welt vom Schicksal geschlagen sind. Doch sie wollte Herz zeigen und Menschlichkeit üben, hat dabei ihr Land und ihre europäischen Partner aber offensichtlich überfordert. Zumindest muss es ihr so vorgekommen sein. Fünf Millionen Flüchtlinge unter 500 Millionen Europäern – das müsste doch zu schaffen sein. Das ist es nicht.

Es ist einsam um Merkel geworden. Nationaler Egoismus der meisten Mitglieder der Europäischen Union verhindert vernünftige Vereinbarungen über eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen. Merkels politische Heimat, die Union, ist über den Umgang mit Flüchtlingen tief gespalten. Wie das Volk auch. Einerseits hat Deutschland mit einer überwältigenden Willkommenskultur der Welt imponiert. Auf der anderen Seite haben die Sorgen vieler Menschen den Islamhassern und Asylfeinden von Pegida und AfD einen Zulauf gebracht, der das Spiel der politischen Kräfte in Deutschland empfindlich stört. Nun heißt es, die Scherben zusammenzukehren, Europa neu zu erfinden. Ein Rückfall in den Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts, der so viel Leid und Tod gebracht hat, ist keine Option. Ob wir das schaffen?

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