Gesellschaft steht vor der Gerechtigkeitsfrage

von Wolfgang Weissgerber

Wolfgang Weissgerber

Der 1. Mai, der arbeitsfreie Tag der Arbeit, fällt auf einen Sonntag. Damit sind die Beschäftigten angeschmiert. Denn am Sonntag haben die meisten von ihnen sowieso frei. Ein entgangener Feiertag ist aber das geringste Problem, das Arbeitnehmer plagt. Beginnen wir mit der Digitalisierung. Der Mensch kann überall und jederzeit alle verfügbaren Informationen erhalten. Allerdings sind die Beschäftigten nun jederzeit erreichbar und disponibel. Wer dienstliche Mails am Wochenende lesen kann, von dem wird erwartet, dass er es auch tut – und darauf reagiert. So wächst der Druck, abschalten ist kaum möglich. Zukünftig wird die Digitalisierung der Arbeitswelt zudem vermutlich weit mehr Jobs kosten, als es die Verlagerung von Produktion ins Ausland, Rationalisierung und der Zusammenbruch ganzer Branchen bisher vermochten. Roboter und Computer werden den Menschen vielerorts überflüssig machen.

In Deutschland ist es in den vergangenen Jahrzehnten zwar gelungen, dem industriellen Wandel durch Innovationen zu begegnen und die Beschäftigtenzahl, von Dellen abgesehen, stabil zu halten. Massenarbeits­losigkeit ist ein Phänomen, das Deutschland zuletzt vor 85 Jahren ­erlebt hat. Derzeit ist die Beschäftigungsquote sogar auf Rekordniveau, doch wie lange es dabei bleibt, vermag niemand abzuschätzen. Zugleich wächst die Zahl derer, die trotz eines Arbeitsplatzes kaum über die Runden kommen. Viele davon fristen ihr Dasein in prekären Beschäftigungsverhältnissen ohne Sicherheit. Und ihre Erwerbsbiografien führen direkt in die Altersarmut, weil sie nur geringe Rentenansprüche haben.

Der demografische Wandel belastet sogar Beschäftigte mit einem auskömmlichen Berufsleben. Demnächst erreichen die geburtenstarken Jahrgänge vor dem Pillenknick Mitte der 1960er Jahre das Rentenalter, der medizinische Fortschritt lässt die Menschen immer älter werden. Darauf hat der Gesetzgeber reagiert und das Rentenniveau gesenkt, die Lebensarbeitszeit erhöht und zu privater Vorsorge geraten. Das gegenwärtige Zinsniveau macht aber allen Beteiligten einen Strich durch die Rechnung. Ob Riester-Rente oder Lebensversicherung: Die Renditen bleiben hinter den Erwartungen zurück. Da geht manche Rechnung fürs Alter nicht auf.

Ärgern muss sich auch, wer trotz geringen Einkommens etwas für die private Altersvorsorge abgezweigt hat. Wer mangels genügender Rentenansprüche auf die Grundsicherung im Alter angewiesen ist, muss sich die Riester-Rente darauf anrechnen lassen. Den Konsumverzicht hätte er sich also schenken können. Über allem steht daher die eine entscheidende Frage: Wie sozial und wie solidarisch will diese Gesellschaft sein? Wer nicht FAZ-Redakteur oder FDP-Mitglied ist, den beschleichen jedenfalls Zweifel, ob die Kräfte des Markts ausreichen, allen Menschen in jeder Lebensphase ein auskömmliches Dasein zu sichern.

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