Richtiges Zuhören ist inzwischen Lebenskunst

von Heinrich Bedford-Strohm

Heinrich Bedford-Strohm

„Hörst du mir zu?“ Eine Mutter geht mit ihrem Kind spazieren. Der Kleine will der Mutter von seinen Entdeckungen erzählen, die Mutter ist mit den Gedanken woanders. Das Kind zerrt am Mantel: „Mama, ich rede mit dir! Hörst du mir zu?“ Ein Paar im Zug, sie redet. Er starrt auf sein Mobiltelefon, wischt und tippt. Nach einer Weile ist sie genervt: „Hörst du mir überhaupt zu?“ In Konferenzen ist es fast selbstverständlich, dass parallel zu den Wortbeiträgen jeder Zweite seine Mails liest. Es gibt Diskussionsrunden, bei denen sich die Teilnehmenden konsequent unterbrechen und allein darauf aus sind, eigene Argumente zu platzieren. Manche Menschen führen die Sätze ihrer Gesprächspartner zu Ende, weil sie meinen, zu wissen, was der oder die andere sagen will.

„Hörst du mir zu?“ Die Frage ist häufig berechtigt. Denn Zuhören ist anstrengend. Zuhören braucht Zeit, Ruhe, Geduld, Aufmerksamkeit. Davon haben wir immer weniger. Der Alltag und die Lebensbezüge des modernen Menschen sind anspruchsvoll und brauchen viel Kraft. Es sind manchmal zu viele Dinge, die gleichzeitig auf uns einstürmen. Da heißt es sortieren, filtern, was wichtig ist. Im richtigen Moment zuhören, den und die anderen verstehen, ist Lebenskunst.

Wie wichtig das Hören ist, davon erzählt die Bibel, schon zu Beginn. Gott spricht die Welt an. Aus dem Wort Gottes entsteht die Schöpfung. Gott sprach: Es werde Licht, und es war Licht. So schöpferisch ist Kommunikation. Jemand spricht mich an, ich höre zu, und daraus entsteht etwas, von dem die Bibel sagt: „Siehe, es war sehr gut.“ Reden und Zuhören sind ein kreatives Paar.

„Hörst du mir zu?“ In vielen biblischen Geschichten erkennen die Menschen Gott gerade durchs Hören. Die Propheten werden durch Gottes Wort, das sie hören, berufen. Maria erfährt die kommende Geburt des Heilands durch ein Wort des Engels. „Wer Ohren hat, der höre“, sagt Jesus, wenn er Gleichnisse erzählt.

„Hörst du mir zu?“ Wo wir einander nicht mehr zuhören, haben wir ein Problem. Ein zwischenmenschliches, aber auch ein geistliches. Denn Zuhören hat mit Achtung und Wertschätzung zu tun. Wie soll ich die Nöte eines anderen verstehen und handeln können, wenn ich nicht auf sie höre? Wie soll ich meine Partnerschaft pflegen, wenn ich nicht verstehe, was der oder die andere sagt? Wie kann ich meine Beziehung zu Gott leben, wenn ich seiner Stimme keinen Raum gebe?

„Hörst du mir zu?“ Man kann das Zuhören üben. Man kann lernen, einen Bibelvers auf sich wirken zu lassen. Hören auf das, was dieses Wort mir sagen will. Man kann darauf achten, den und die andere ausreden zu lassen. Hören auf das, was er oder sie mir sagt. So entsteht Achtung und Wertschätzung im Miteinander. „Hörst du mir zu?“: „Ja! Ich bin ganz Ohr.“

Der Autor ist Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland.

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