Angst vor Terror darf Werte nicht zerstören

von Wolfgang Weissgerber

Wolfgang Weissgerber

In Westeuropa starben in den 1970er und 1980er Jahren pro Jahr im Durchschnitt 150 Menschen durch Terrorakte. Seitdem sind diese Zahlen drastisch zurückgegangen, unterbrochen von den Anschlägen in Madrid 2004 (191 Tote) und London 2005 (56 Tote), beide durch El Kaida, Norwegen 2011 durch Anders Breivik (77 Tote) oder Paris 2015 durch den IS (147 Tote) sowie zuletzt in Brüssel und Nizza. Zwar gibt es einen bedeutsamen Unterschied: Der Terror der RAF in Deutschland, der IRA in Nordirland, der ETA in Spanien oder von Neofaschisten in Italien ließ andere Länder unbehelligt und hatte bestimmte Personengruppen im Visier, der islamistische Terror zielt auf Europa als Ganzes, er kann jederzeit und überall zuschlagen, er kann jeden treffen.

Dennoch ist Westeuropa eine der sichersten Weltregionen überhaupt, sicherer sogar als in seiner eigenen jüngeren Vergangenheit. Auch von Amokläufern sind wir weitgehend verschont geblieben. Die Ereignisse von Erfurt 2002 und Winnenden 2009 haben sich gerade deshalb ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, weil sie so singulär waren. Allein in Irak sind von 2001 bis 2014 knapp 43 000 Menschen durch Terroranschläge ums Leben gekommen, an die 17 000 in Afghanistan, über 13 000 in Pakistan und fast 12 000 in Nigeria. Opfer von islamistischen Anschlägen sind demnach mit übergroßer Mehrheit Muslime.

Ein mulmiges Gefühl bleibt trotzdem. Es ist verständlich, wenn viele Menschen nach den jüngsten Schreckensmeldungen mit verstärkter Sorge reagieren. Indes: Fast 3000 Menschen sterben jedes Jahr im Straßenverkehr in Deutschland. Aber bleibt deshalb jemand daheim? Nein, das gehört zu den Lebensrisiken. Arglos setzen wir uns ins Auto oder aufs Fahrrad. Stattdessen fürchten sich manche vor einem der sichersten Verkehrsmittel, dem Flugzeug. In der engen Blechröhre fühlt man sich ausgeliefert, machtlos – und ist es auch.

Angst ist eine Errungenschaft der Evolution. Sie ist eine Emotion, ein Gefühl. Angst lähmt. Anders ausgedrückt: Sie bewahrt uns davor, unnötige Risiken einzugehen. Lebewesen ohne diese Verhaltenshemmung sind in einem gnadenlosen Ausleseprozess längst aus dem Genpool dieser Erde verschwunden. Angst gehört zum Selbsterhaltungstrieb, wer keine hat, geht irgendwann drauf.

Angst ist ein guter Ratgeber. Und ein schlechter – wenn sie zum Dauerzustand wird. Wer in ständiger Angst lebt, kommt überhaupt nicht mehr zurecht. Doch warum wir uns nicht Bange machen lassen sollten, hat Bundespräsident Joachim Gauck bei der Trauerfeier des Münchner Amokläufers herausgestrichen. Die Terroristen „werden uns nicht zwingen zu hassen, wie sie hassen“, sagte er. Die deutsche Gesellschaft werde bleiben, wie sie ist: „eine mitmenschliche, solidarische Gesellschaft“. Wenn wir aus Angst diese Werte aufgeben, haben die Terroristen ihr Ziel erreicht.

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