Der Kirche fehlen die Impulse der Theologie

von Martin Schuck

Martin Schuck

Der Schweizer Theologe Karl Barth (1886 bis 1968) stellte einmal die Frage: „Gibt es eine Wissenschaft, die so ungeheuerlich und die so langweilig werden könnte wie die Theologie?“ Und es folgte die Feststellung: „Der wäre kein Theologe, der nicht vor ihren Abgründen noch nie erschrocken wäre oder der vor ihnen zu erschrecken aufgehört hätte.“

Die ersten Jahre der Nachkriegszeit, in denen Barth so redete, waren für die Theologie tatsächlich ungeheuerliche, bisweilen abgründige Zeiten. Die Anhänger Barths wollten die Kämpfe der Nazizeit weitertragen und rangen mit der Regierung Adenauer um die politische Richtung der jungen Bundesrepublik. Langweilig war die Theologie damals nicht, denn neben den als „links“ geltenden Anhängern Barths gab es konservative Lutheraner, die mit den „Barthianern“ um den richtigen Weg von Kirche und Gesellschaft stritten. Dazu kamen die Anhänger des Marburger Neutestamentlers Rudolf Bultmann (1884 bis 1976), der mit den pietistisch geprägten Bruderschaften einen Grundlagenstreit ausfocht um die Frage, wie die Auferstehung und die anderen Wunder der Bibel in einer von moderner Technik geprägten Welt verstanden werden können. All diese von Theologen angeregten Debatten wurden in einer breiten publizistischen Öffentlichkeit geführt, und auch in den Gemeinden fanden diese Diskussionen starken Widerhall.

Diese produktive Phase der Nachkriegstheologie dauerte bis zu den sozialethischen Debatten der 1980er Jahre über Krieg und Frieden, Ökologie und soziale Gerechtigkeit. Theologen wie Jürgen Moltmann, Dorothee Sölle, Trutz Rendtorff und der damals junge Wolfgang Huber faszinierten auf Kirchentagen und in den Feuilletons. Doch diese Zeiten sind längst vorbei, und die evangelische Theologie scheint, um mit Karl Barth zu reden, in ihre langweilige Phase eingetreten zu sein, wo es wahrlich keine Abgründe gibt, über die zu erschrecken wäre.

Nun ist es zwar gut, dass die Theologie weder Angst noch Schrecken verbreiten will. Bedrohlich ist allenfalls die Feststellung, dass von der Theologie an den Universitäten überhaupt keine Impulse mehr für die Kirchen ausgehen. Theologen tauchen in der Öffentlichkeit meist als Mitautoren wohl abgewogener Texte auf, die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Auftrag gegeben wurden. Selten sind die Gelegenheiten, in denen sich Theologen kirchenunabhängig zu Wort melden wie zuletzt vor einem Jahrzehnt in Fragen der Medizinethik. Ansonsten gibt die EKD über ihre Jahresthemen Stichworte vor wie Taufe, Kirchenmusik oder ­„Eine Welt“. Diese mögen zwar zum theologischen Nachdenken anregen, haben aber wenig Potenzial für lebendige und weiterführende Debatten. Eine rege Debattenkultur zwischen Universitäten, Kirchenämtern und Gemeinden wäre aber notwendig, um die Kirchen aus ihrer Fixierung auf die eigene Befindlichkeit herauszuführen.

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