Auch Walter Jens konnte es nicht ahnen

von Renate Haller

Renate Haller

Menschen mit Demenz verändern sich. Ihre Angehörigen werden ihnen fremd. Umgekehrt erkennen auch die Partner oder Kinder sie nicht ­wieder oder staunen zumindest über gravierende Verschiebungen in der Persönlichkeit. So ging das auch Inge Jens. Gemeinsam mit ihrem Mann Walter hatte sie eine Patientenverfügung formuliert. In ihr war festgehalten, dass unterbleiben sollte, was das Sterben verhindert. Als der Tübinger Professor an fortgeschrittener Demenz litt, war seine Frau sich aber ­sicher, dass er in den wenigen Momenten, in denen er sich mitteilen konnte, um Hilfe zum Leben bat.

Wie er sich durch die Krankheit verändern würde, konnte Walter Jens nicht ahnen. Und das können auch all jene gesunden oder leicht dementen Menschen nicht, die zustimmen, bei fortgeschrittener Demenz an einer Medikamentenstudie teilzunehmen.

Bislang durften neue Medikamente in klinischen Studien an nicht einwilligungsfähigen Menschen nur erprobt werden, wenn ihr Zustand bedrohlich und davon auszugehen ist, dass ihnen die Medikamente helfen. Vergangene Woche hat der Bundestag eine Novelle des Arzneimittelgesetzes beschlossen. Die sieht vor, dass nicht einwilligungsfähige Patienten auch dann an Studien teilnehmen können, wenn es ihnen nichts mehr bringt. Voraussetzung ist, dass sie zuvor bei vollem Bewusstsein zugestimmt haben und dass das später auch der gesetzliche Betreuer tut. Das klingt erst einmal vernünftig. Die Krankheit ist bedrohlich. Trotzdem: Der Schritt in Richtung eines geringeren Schutzes für Schutzbedürftige ist falsch.

Zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Mensch den Tests zustimmt, kann er nicht wissen, wie er später dazu stehen wird. Das Ich verändert sich, und niemand kann vorhersehen, wie das spätere Ich entscheiden wird. Da es um Studien geht, kann auch niemand sagen, was ein verabreichtes Medikament mit dem Menschen macht. Wirkung und Nebenwirkung gilt es ja erst herauszufinden. Hochdemente können sich in der Regel aber nur schwer mitteilen. Das heißt, auch schlechte Wirkungen müssen sie ertragen.

Dem Argument, man brauche die Tests, um die Entwicklung von Medikamenten voranzutreiben, widersprechen auch Fachleute. Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller hatte im Vorfeld mitgeteilt, die bisherigen Studienmöglichkeiten seien ausreichend. Kirchenvertreter hatten im Vorfeld der Bundestagsdebatte dennoch für eine Zulassung der Tests plädiert. Es gehe um eine Güterab­wägung zwischen dem Schutz des Lebens, dem Forschungsinteresse und dem Respekt vor Menschen, die bereit sind, an Studien mitzuwirken.

Die Bereitschaft, ein Opfer für die Gemeinschaft zu bringen, ist ehrenwert. Aber Größe und Gewicht dieses Opfers müssen bekannt sein, und das sind sie hier eben nicht. Wehrlose Menschen eignen sich nicht als Versuchskaninchen.

Meistgelesene Leitartikel & Kommentare