Leid und Trauer sind ins Sommercamp mitgereist

Junge Ukrainer berichten vom Leben zu Hause – Deutschlandaufenthalt auf Einladung des Internationalen Bauordens – Besuch in Speyer

Auf den Domtreppen: Für den Ausflug nach Speyer haben die Jugendlichen aus der Ukraine ihre Trachten angezogen. Foto: Landry

Novograd-Volynskij liegt im Westen der Ukraine. Trotzdem ist die Region nicht vom Krieg verschont geblieben. Viele der 56 000 Einwohner gehören der Armee an. Die meisten haben tote, verwundete oder vermisste Angehörige zu beklagen. Gemeinsam mit dem Internationalen Bauorden hat die von Valentyna Sobetska im Dezember 2014 gegründete „Kinderhilfe Ukraine – Rhein-Neckar für Novograd-Volynskij“ ein ukrainisch-deutsches Sommercamp organisiert. Unter dem Motto „Europa entdecken“ sind sich in den vergangenen zwei Wochen 24 zwölf- bis 15-jährige Ukrainer und Deutsche in der Tagungsstätte der Evangelischen Jugend in Neckarzimmern begegnet. Der KIRCHENBOTE hat 16 ukrainische Teilnehmer bei ihrem Besuch in Speyer getroffen.

„Der Krieg ist in Novograd-Volynskij sehr präsent“, schildert die Wahl-Ludwigshafenerin Sobetska Eindrücke aus ihrer ukrainischen Heimatstadt. „Viele Eltern der Jugendlichen sind derzeit an der Front.“ Über die Situation zu Hause wollen die jungen Ukrainer am liebsten schweigen. „Vergessen kann keiner von ihnen das Leid, die Trauer und das Entsetzen. Sie denken Tag und Nacht daran“, ist Sobetska überzeugt. Ihre kunstvoll bestickten Trachten haben die Mädchen und Jungen für den Ausflug nach Speyer angezogen und den aufwendigen Blumenschmuck ins Haar gesteckt. Einem hängt die ukrainische Fahne von den Schultern.

Sascha und Dimitro sind bereit, zu erzählen, was sie auf ihrer Deutschlandreise und in der Heimat bewegt. „Es ist so schwer“, sagt Sascha und ringt um Fassung. „Mein Vater hat in der Armee für den Frieden gekämpft und dabei seine Gesundheit verloren“, berichtet die 13-Jährige vom Schicksal ihrer Familie. „Ich verstehe einfach nicht, warum.“ Hilflos schüttelt das Mädchen den Kopf. Dimitro, der ein Jahr Ältere, versteht Sascha nur zu gut. „Mein Papa hat so gerne Fußball mit mir gespielt“, erzählt er von seiner heilen Welt in Novograd-Volynskij bis zum Ausbruch des bewaffneten Konflikts vor mehr als einem Jahr. „In seinen Kopf haben sie geschossen“, erklärt der 14-Jährige, warum sein Vater seine gesamte rechte Körperhälfte nicht mehr gebrauchen kann. „Dabei war Papa nicht einmal ein Soldat.“ Dimitro kann nicht fassen, was Realität in seiner und vielen anderen ukrainischen Familien ist. Zwei seiner Freunde hätten ihre Väter im Krieg verloren, denkt der Junge an die, denen noch Schlimmeres widerfahren ist als ihm. „Jedenfalls lebt Papa noch.“

Fünf Männer aus ihrem Stadtteil seien von Waffen getötet worden, sagt Sascha. „Sie alle waren Väter meiner Freundinnen.“ Alle hätten Angst vor dem, was schon morgen mit ihren Vätern, Onkeln, Brüdern oder mit ihnen selbst passieren könne, beschreibt sie die Unsicherheit, mit der die Menschen in der Ukraine täglich lebten. Die Sorge um die Familie zu Hause lasse sie und ihre Reisegefährten auch in Deutschland nicht los, sagt Sascha. „Die Sorgen sind immer da.“

30 Stunden habe die Busfahrt von Novograd-Volynskij über Lemberg, Dresden und München bis nach Neckarzimmern gedauert, berichten Sascha und Dimitro von einer Reise „wie durch die Karpaten“. Sogar Rehe und einen Fuchs hätten sie gesehen. „Alles cool“, fasst Dimitro seine Eindrücke auf seiner ersten Auslandsreise zusammen. Vor allem die deutsche Architektur und die „unglaublich vielen neuen und schönen Autos“ hätten es ihm angetan, sagt er. „Daumen hoch“: Damit ist für Sascha – fast – alles über Deutschland und die Deutschen gesagt. Am liebsten würde sie möglichst bald wiederkommen, schwärmt das Mädchen von dem Land, dessen Sprache fasziniere, in dem es so viel zu entdecken und manchmal auch Momente totaler Entspannung gebe.

„Wir wollen, dass die Kinder in unserer Heimat und später unsere eigenen nicht erleben müssen, was wir jetzt erleben“, appelliert Sascha eindringlich an die Erwachsenen, die Waffen niederzulegen. „Das soll die ganze Welt wissen.“ „Leben wollen wir, keine toten Väter“, sagt Dimitro. „Danke“, sagt Sascha, die Augen voller Tränen, auf Deutsch. „Danke für das Zuhören.“ Die Kindheit der ukrainischen Sommercamp-Teilnehmer hat spürbare Risse bekommen. Die Narben werden sie ihr Leben lang begleiten. Ellen Korelus-Bruder

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