Erinnerungskisten zeigen die verborgenen Erfahrungen

Künstlerin und Dekanat Frankenthal starten Projekt – Fünf Frauen der Kriegskindergeneration tauschen sich aus – Ausstellung 2016 geplant

Leiten das Projekt: Künstlerin Gabriele Strohrmann und Diakon Horst Roos. Foto: Bolte

Frankenthal. Sie wollen dem Schicksalsjahr 1945 auf die Spur kommen, die Teilnehmer des vom Dekanat Frankenthal gestarteten Projekts „Erinnerungskiste“. Dazu haben sich fünf Frauen der Kriegskindergeneration zusammengetan, um über ihre Kriegserlebnisse zu reden und mit der Künstlerin Gabi Strohrmann ihre Erinnerungen in einer Kiste künstlerisch zu gestalten.

„Erfahrungen pflanzen sich fort, es geht immer weiter, wenn man nicht darüber redet“, weiß Horst Roos aus vielen Gesprächen. Als Gemeindediakon und Sozialgerontologe ist er ständig mit der Lebenswelt der Kriegskinder­generation befasst und weiß um die komplexe Problematik nicht verarbeiteter Erlebnisse. Dem entgegenwirken will das Projekt Erinnerungskiste, denn „Erinnerungsarbeit ist ein Stück Friedensarbeit“, ist Roos überzeugt.

Dafür haben sich fünf Frauen gemeldet, die zwischen 1922 und 1942 geboren sind. Die Älteste in der Runde, Anneliese Albrecht, berichtet, wie sie als Krankenschwester auf der Flucht 150 Kinder von Schlesien nach Bayern begleitete. An die Ohrfeigen von Amtspersonen wie Hausmeister und Polizist erinnert sich die 1935 geborene Emmi Löffler aus Flomersheim, als sie bei einem Fliegeralarm in Tränen ausbrach.

„Nochmal hinfahren, um etwas abzuschließen“, möchte die 1936 geborene Dorothea Sester ins frühere schlesische Schweidnitz. Im Kreis von Zeitzeugen Erinnerungen auszutauschen, ist ihr wichtig, „man kann ja sonst mit niemandem darüber reden“. Emmi Spatz, die das Kriegsende als Zehnjährige in Pirmasens erlebte, pflichtet ihr bei. „Ich habe keine Bilder, nur Geräusche im Kopf“, berichtet Eva Bewert aus Braunlage im Harz. 1945 war sie drei Jahre alt. „Ich spürte die Angst der Eltern“, sagt sie. Sirenengeheul etwa hat sich tief in ihr emotionales Gedächtnis eingeprägt, noch heute reagiert sie empfindlich darauf.

Kindheit und Jugend der heute über 70-Jährigen waren vom Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit geprägt. Die Überlebenden hatten keine Zeit zum Reden, mussten funktionieren. Weitermachen war die Devise nach dem Krieg. Die betroffenen Altersgruppen lebten unter einer „anormalen Normalität“, sie „funktionierten unter einer seelischen Betondecke“, weiß Hartmut Radebold zu berichten. Der Altersforscher – als aus dem Jahrgang 1935 selbst Kriegskind – ist Begründer der deutschsprachigen Psychotherapie Älterer und hat die Kriegskinder-Forschung entscheidend geprägt. „Reden und Zuhören sind ein guter Anfang“, riet Radebold auf einem Kriegskinder-Fachtag, der im vergangenen Jahr in Frankenthal stattfand. Daraus entstand im Mai ein erster „Gesprächskreis für Kriegskinder“, denn „in der Seele der Angehörigen der Kriegskindergeneration ist der Zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende“, hat Dekanin Sieglinde Ganz-Walther beobachtet. Begleitet von Gestalttherapeutin Sylvia Weiler und Sozialgerontologe Horst Roos trifft sich der Gesprächskreis zwischen 1929 und 1947 Geborener noch bis November einmal im Monat. Ein zweiter Gesprächskreis, der offen ist für weitere Teilnehmer, soll noch im Oktober neu beginnen.

Ebenfalls in Frankenthal gegründet hat sich der Kriegskinderverein. Er unterstützt das Forschungsprojekt einer repräsentativen Querschnittsbefragung von Kriegskindern in Europa sowie den Aufbau eines deutschen Zeitzeugenarchivs bei der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, das Video-Interviews, Fragebögen und persönliche Unterlagen der Befragten sammelt.

Wegweisend für das Frankenthaler Projekt „Erinnerungskiste“ war das europäische Erinnerungsprojekt „Making Memories Matter – Erinnerungen Raum geben“, das unter Leitung von Pam Schweitzer und Angelika Trilling bereits 2005 in sechs europäischen Ländern stattfand. „Die Frage, was habe ich 1945 erlebt, steht im Mittelpunkt unserer Projektarbeit“, erklärt die Frankenthaler Künstlerin Gabi Strohrmann. Sie hat das Projekt „Erinnerungskiste“ in Frankenthal initiiert. „Mir geht es darum, dass die Teilnehmer an das Verborgene – an die Substanz – kommen und es visuell gestalten.“ Das könne, so die Künstlerin, auf ganz unterschiedliche Art geschehen: Personen, Orte, Tätigkeiten, Gedanken – die Erinnerungskiste eines jeden soll im Verlauf der gemeinsamen Treffen entstehen und am Ende das widerspiegeln, was ihren Urheber im Jahr 1945 beschäftigt hat. Fotos, Gegenstände, Zeichnungen, kleine Kunstwerke – wie die Frankenthaler Kriegskinder ihre Erinnerungen gestalten, darauf darf man gespannt sein. Im Frühjahr 2016 sollen die Erinnerungskisten bei einer Ausstellung gezeigt werden, zu der auch ein Generationen übergreifendes Rahmenprogramm geplant ist.

Das erste Arbeitstreffen der Projektgruppe „Erinnerungskiste“ findet am Donnerstag, 15. Oktober, 11 Uhr im Dathenushaus statt. Es sind noch Interessenten willkommen. Nähere Informationen zum Gesprächskreis für Kriegskinder und zum Projekt „Erinnerungskiste“ gibt es bei Gemeindediakon Horst Roos im Dekanat Frankenthal, Gar­tenstraße 6, Telefon 0 62 33 / 2 39 09 77, e-mail: horst.roos(at)nospamevkirchepfalz.de. Weitere Informationen sind verfügbar unter: www.kriegskinder-verein.de. kag

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