Kleinste Veränderungen lösen große Ängste aus

Mobile Dienste im Ökumenischen Gemeinschaftswerk Pfalz bieten Hilfe für autistische Erwachsene an – Spezifische Beratung und Förderung

Tief greifende Entwicklungsstörung: Jede Abweichung im von Ritualen geprägten Alltag wühlt Autisten auf. Foto: Gemeinschaftswerk

Ansprechpartner: Frank Phillips ist Berater und Ergotherapeut. Foto: Jung

Menschen mit Autismus brauchen viel Unterstützung, auch als Erwachsene. Dem trägt ein Angebot der autismusspezifischen Beratung und Förderung der mobilen Dienste im Ökumenischen Gemeinschaftswerk Pfalz mit Sitz in Landstuhl Rechnung – mit fundierten und umfassenden Hilfeleistungen.

Alles muss seine Ordnung haben. Das ist für Sabine Greß* äußerst wichtig. Oft reichen kleinste Veränderungen im gewohnten Ablauf, um sie zutiefst zu verunsichern und Ängste auszulösen. Deshalb ist ihr Leben geprägt von festen Ritualen und stereotypen Verhaltensweisen. Dass es sich dabei um typische Symptome von Autismus handelt, wissen die Eltern lange nicht. „Die Entwicklung unserer Tochter ist völlig normal verlaufen. Erst als sie zu sprechen anfing und immer in der zweiten Person von sich geredet hat, sind wir stutzig geworden“, berichtet Maria Greß*. Zu dieser Auffälligkeit gesellen sich eine starke Unruhe des Mädchens und Angstzustände, sobald es darum geht, außer Haus zu übernachten. „Das waren erste Hinweise, dass etwas nicht stimmt. Aber die definitive Diagnose haben wir erst erhalten, als Sabine elf Jahre war“, sagt Walter Greß* (*Namen geändert).

Zu der Zeit lebt die Familie in Norddeutschland, wo Sabine eine Montessori-Schule besucht und Einzelbetreuung bekommt. Der Beruf des Vaters führt sie 2006 in die Pfalz. Anders als erhofft, scheint es hier keine adäquaten Möglichkeiten für das Mädchen zu geben. Die finden sich erst in einer Schule in Mannheim und dem dortigen Therapiezentrum für Autisten. „Da haben wir viel Hilfe bekommen. Dank der professionellen Unterstützung konnte Sabine sogar ihre Ängste ein bisschen abbauen. Als sie 2012 ihren Schulabschluss gemacht hat, standen wir allerdings wieder vor dem Problem, wie es weitergehen soll“, berichtet der Vater. „Aber wir hatten Glück und erfuhren über Umwege von den Werkstätten im ökumenischen Gemeinschaftswerk.“ Am Standort Kaiserslautern-Siegelbach macht das Mädchen ein Praktikum – und bleibt. Hier fühlt sich die heute 23-Jährige wohl, hat im Montagebereich ihren Platz gefunden.

„Die Tätigkeit am Laufband ist klar strukturiert. Das kommt Personen mit dieser Entwicklungsstörung entgegen“, erklärt Frank Phillips. Er ist Ergotherapeut und Mitarbeiter der autismusspezifischen Beratung und Förderung, die dem Bereich mobile Dienste angegliedert ist. Hier kümmert sich ein multiprofessionelles Team um die Probleme, Belange und Bedürfnisse autistischer Menschen und ihres Umfelds. Galt das Angebot bislang vor allem für Kinder und Jugendliche, richtet es sich nun auch an Erwachsene. „Denn autistische Kinder werden zu Schulzeiten meist engmaschig betreut. Sobald sie in die Ausbildung oder ins Arbeitsleben wechseln, ist diese Unterstützung nicht mehr gegeben. Diese Lücke möchten wir schließen“, sagt Phillips.

Das Spektrum der Angebote ist breit gefächert und reicht von der Differenzialdiagnostik mittels spezieller Testverfahren hin zu ausführlicher Aufklärung über das Störungsbild und individuellen Therapien. „Autismus ist eine tief greifende Entwicklungsstörung, die bei jedem ein eigenes Erscheinungsbild mit unterschiedlich starker Ausprägung hat. Deshalb spricht man heute von Autismus-Spektrums-Störungen“, erläutert Phillips. „Ihnen liegt eine andere Art der Informationsverarbeitung zugrunde. Das heißt, Autisten sind kaum in der Lage, Emotionen oder soziale Signale zu deuten und auch selbst auszusenden. Dadurch fehlt ihnen das Verständnis für die üblichen Umgangsregeln. Ihre Reaktionen werden deshalb oft als unpassend empfunden und führen zu Missverständnissen.“ Weil die Wahrnehmung äußerer Einflüsse bei autistischen Menschen gestört ist, brauchen sie feste Strukturen. Folglich sei ihr Alltag geprägt von Ritualen, stereotypen Verhaltensmustern und Zwängen. „Alles, was neu oder unklar formuliert ist, überfordert sie und macht ihnen Angst.“

Da Autismus nicht heilbar ist, bleiben die Beeinträchtigungen ein Leben lang erhalten. Allerdings kann es gelingen sie abzuschwächen. Dieses Ziel verfolgt das Team der autismusspezifischen Beratung und Förderung. Individuell zugeschnittene Lösungsstrategien sollen den Betroffenen zu mehr Selbstständigkeit und Stabilität verhelfen. „Wir setzen darauf, die vorhandenen Ressourcen zu fördern. Wenn das gelingt, lassen sich Defizite etwas kompensieren, Rituale und Zwänge einschränken. Das trägt bei, die Lebensqualität zu verbessern“, sagt Phillips. Friederike Jung

Genetischen Defekt vermutet

Der Bundesverband Autismus in Deutschland mit Sitz in Hamburg schätzt die Zahl der an Autismus erkrankten Menschen auf ein Prozent der Bevölkerung.

Bei Autismus handelt es sich um eine Entwicklungs- und Informationsverarbeitungsstörung. Man unterscheidet dabei zwischen frühkindlichem Autismus, der in den ersten drei Lebensjahren beginnt und häufig mit geistiger Behinderung und verminderter Intelligenz einhergeht, und dem Asperger-Syndrom, bei dem im Unterschied zum frühkindlichen Autismus oft kein Entwicklungsrückstand in der Sprache und keine verminderte Intelligenz vorhanden sind.

Beiden Ausprägungen gemeinsam ist eine Störung des Sozialverhaltens, der Kommunikation und der Wahrnehmung. Autisten haben oft Probleme, sich Zeit einzuteilen, selbstständig zu handeln und flexibel auf Ereignisse zu reagieren. Jede Veränderung ihrer Umwelt wühlt Autisten stark auf.

Die Intelligenz von Autisten ist unterschiedlich, reicht von geistiger Behinderung über normale Intelligenz bis zu hohen Intelligenzquotienten. Vor allem im Rechnen, in technischen Disziplinen und künstlerischen Tätigkeiten sind manche von ihnen sehr begabt. Autismus gilt als nicht heilbar. Wissenschaftler vermuten einen genetischen Defekt als Ursache. epd

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