Von der Betreuungseinrichtung zum Familienzentrum

Der gesellschaftliche Wandel hat die Arbeit in den Kindertagesstätten verändert – Immer neue pädagogische und soziale Herausforderungen

Küche der Lambsheimer Kindertagesstätte: 70 Prozent der Kinder bekommen heute in einer Tagesstätte ihr Mittagessen. Foto: Bolte

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Arbeit in den Kindertagesstätten grundlegend verändert. Die Einrichtungen seien im Laufe der Zeit von Betreuungseinrichtungen zu immer profilierteren Bildungseinrichtungen geworden, sagt der für die protestantischen Kindertagesstätten zuständige Oberkirchenrat Manfred Sutter. Im Vergleich der Bundesländer liege Rheinland-Pfalz bei den Standards in den Tagesstätten weit vorne, und die Kirche sei stolz darauf, diese Entwicklung entscheidend mitgestaltet zu haben.

Da die Kindertagesstätten ein Abbild gesellschaftlicher Wirklichkeit seien, unterlägen sie auch dem gesellschaftlichen Wandel, sagt Gloria Marinello, Leiterin des Referats Kindertagesstätten beim Diakonischen Werk Pfalz. Vor allem die vielfältigen Familienformen stellten ganz neue Fragen an die kindliche Bildung. Die starren Öffnungszeiten gebe es nicht mehr. Inzwischen blieben 70 Prozent der Kinder durchgängig in den Kindertagesstätten – mit Mittagessen und Mittagsschlaf. Auch sei zu beobachten, dass die Sprachbildung bei Kleinkindern problematischer werde, da sich immer mehr Eltern mehr mit ihren Mobiltelefonen beschäftigten, als mit ihren Kindern zu reden.

Eine große Herausforderung für die Kindertagesstätten sei die Altersspreizung, sagt Marinello. Früher seien nach dem Sommerferien die Vierjährigen geschlossen in die Tagesstätten gekommen. Mit Vier- bis Sechsjährigen sei gruppenpädagogisch gut zu arbeiten. Seit 1996 gibt es nun einen Rechtsanspruch für Dreijährige, seit 2010 einen für Zweijährige und seit 2013 einen für Einjährige. Diese Kinder hätten sehr unterschiedliche Bedürfnisse, die Arbeit in den Kindertagesstätten habe sich von der Gruppenpädagogik hin zu individueller Betreuung geändert. Zudem kämen die Kinder durch die Stichtagsregelung nicht mehr gleichzeitig. Die einzelnen Gruppen veränderten sich während des Jahres ständig.

Nicht nur altersmäßig, sondern auch kulturell würden die Kindertagesstätten immer heterogener, sagt Marinello. Das sei Bereicherung und Herausforderung zugleich. Kinder lernten, sich mit den eigenen kulturellen Wurzeln zu beschäftigen und gleichzeitig profitierten sie vom Kontakt mit fremder Kultur. Hierbei zeige sich, wie wichtig es sei, dass die Kirche Wert darauf lege, dass religiöse Bildung zu ganzheitlicher Bildung dazugehöre, sagt Oberkirchenrat Sutter. Schon in der Primärbildung sei entscheidend, dass Kinder lernten, differenziert mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen umzugehen.

Insgesamt sei zu beobachten, dass der Erziehungsauftrag zunehmend aus dem Elternhaus auf die Kindertagesstätten übertragen werde, sagt Sutter. Dadurch werde die Erziehungspartnerschaft mit den Eltern immer wichtiger.

Vom Staat haben die Tagesstätten nach Sutters Worten inzwischen den ganzheitlichen Auftrag, Kinder zu erziehen, zu bilden und zu betreuen. Von diesen Anforderungen aus gesehen, sei es nicht weit, Kindertagesstätten zu Zent­ren für das ganze „System“ Familie mit entsprechenden Beratungsangeboten zu machen, sagt Marinello.

Diese Entwicklung bietet nach Auffassung Sutters eine Chance für die Kirchengemeinden. Als Nachbar­schafts­zent­­ren könnten die Einrichtungen Teil lebendiger Gemeindearbeit sein und der Kirche die Möglichkeit bieten, Familien aller Milieus zu begegnen und so ihren Charakter als Volkskirche zu stärken.

Doch bei ihren anspruchsvollen Aufgaben haben die Tagesstätten nach Marinellos Worten eine große Schwierigkeit: das Personalproblem. Schon jetzt komme es vor, dass eine Erzieherinnenstelle ein halbes Jahr unbesetzt bleiben müsse. Die Ausbildung zur Erzieherin sei anspruchsvoll und lang. Demgegenüber sei der mögliche Verdienst zu gering. Hier müsse es zu Veränderungen kommen, damit die Kindertagesstätten ihren wichtigen Auftrag für die Gesellschaft langfristig erfüllen können. koc

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