In Brasilien Krise auf allen Ebenen

Am 5. August beginnen die Olympischen Spiele – Gesellschaft im Abwärtssog – Zulauf für Pfingstkirchen

Austragungsort in der Antike und Namensgeber der olympischen Spiele: Olympia im Nordwesten der Halbinsel Peloponnes. Foto: epd

Favela Vila Autodromo in Rio kurz vor der Räumung: Gebäude im Hintergrund wurden für die Olympischen Spiele errichtet. Foto: epd

Es sei der schönste Radweg der Welt, schwärmte Rios Bürgermeister Eduardo Paes Anfang des Jahres bei der Eröffnung der Stelzenkonstruktion entlang der Küste. Dann kam im April eine Welle und riss ein Stück der Brücke sowie fünf Menschen ins Meer. In Brasilien ist kurz vor Beginn der Olympischen Spiele vieles im Rutschen.

Palmen, Sandstrand, Meer. Abrantes, ein Vorort der Millionenmetropole Salvador da Bahia, könnte ein Traum sein. „Das hier ist ein Hauptumschlagplatz für Drogen und Kinderprostitution“, sagt Padre Luiz, römisch-katholischer Priester für mehrere kleine Orte, darunter Abrantes. Er zeigt zwei evangelischen Pfarrern aus Deutschland, Olaf Lewerenz und Gunter Volz, sein Gemeindegebiet. Der Flughafen ist nahe gelegen. Da machten viele auf der Durchfahrt einen Stopp, um einzukaufen: Rauschmittel oder Sex mit Minderjährigen. In Brasilien liegen Schein und Sein, Hochform und Abgrund dicht nebeneinander. Wer finanziell und sozial noch nicht abgerutscht ist, schottet sich mit aller Macht gegen das Elend um sich herum ab, so der Eindruck von Volz und Lewerenz.

Sobald Brasilianer es sich leisten können, ziehen sie in eine „gated community“, in ein abgesichertes Wohnareal. Mit den Menschen auf der Straße muss man dann nicht mehr in Kontakt kommen. Der Aufzug bringt einen in die Tiefgarage. Von dort geht es zur Privatschule der Kinder, ins klimatisierte Büro und in den bewachten Tennisclub.

Die Altstadt von Salvador leuchtet mit Barockkirchen und viel Gold. Gleichzeitig sind die Hügel ringsum mit Favelas überzogen. Favela ist ein schillernder Begriff und muss nicht gleich Slum bedeuten. Es sind Viertel mit meist unverputzten Häusern ohne Balkon. Volz und Lewerenz waren mehrere Wochen im Land unterwegs. Die beiden evangelischen Pfarrer aus Frankfurt wollten wissen, wie die Kirchen auf die Krise reagieren.

Krise herrscht in Brasilien auf allen Ebenen. Regierungskrise, Wirtschaftskrise, Währungskrise, soziale Krise, Zika-Virus-Krise. Die Entscheidung für die Olympischen Spiele sei zu einer Zeit gefallen, in der man dachte, Brasiliens Wohlstand würde endlos wachsen, erfahren Volz und Lewerenz. Jetzt kurz vor der Eröffnung der Spiele ist die spektakuläre Olympia-Radbrücke an der Küste von Rio nicht das einzige Projekt, das abgestürzt ist. Das Land starrt in verschiedene Abgründe.

Die Krise hat viele Ursachen. Umso schwerer ist die Suche nach einem Mittel dagegen. Die Gesellschaft befindet sich im Abwärtssog und lebt auf Pump. In Brasilien kauft man alles auf Raten, die Milch genauso wie neue Schuhe. Die Preise, ob für Bohnen, Reis oder Energie, sind enorm gestiegen. Arbeitslosigkeit und Verarmung lässt die neu gewachsene Mittelschicht wieder zurückfallen. Olaf Lewerenz und Gunter Volz haben mit Cese eine Favela besucht. Die vier Buchstaben stehen für Coordenadoria Ecumênica de Serviço, eine sozialdiakonische Organisation, die vor 40 Jahren von mehreren Kirchen gegründet wurde. Cese ist Partner des deutschen evangelischen Hilfswerks „Brot für die Welt“. Projetos que mudam vidas ist der Leitgedanke, Projekte, die Leben verändern – zum Beispiel das Leben von Straßenkindern, Schwarzen und indigenen Frauen.

Mit Luana Nascimento Almeia, einer Journalistin von Cese, erleben Lewerenz und Volz eine Gedenkfeier in einer Favela. Vor einem Jahr haben hier Polizisten zwölf Jugendliche erschossen. Vielleicht aus Rache für den Tod eines ihrer Leute, in jedem Fall ein blutiger Willkürakt jenseits des Rechtsstaats. Für jeden der zwölf getöteten Jugendlichen hängt ein schwarzes T-Shirt mit seinem Namen an einer Wäscheleine, die über den Platz gespannt ist.

Die Formel „männlich, schwarz, jung ist gleich kriminell, also zu verhaften“ werde hier oft angewandt, erfahren die beiden Besucher aus Deutschland. Der Rassismus habe in Brasilien viele Gesichter. Es gibt Schwarze auf beiden Seiten, in den Favelas wie bei den Polizisten, die mit roher Gewalt vorgehen.

Ein Pfarrer der baptistischen Gemeinde erinnert an die getöteten Jugendlichen. Er predigt über einen Bibelvers aus dem Prophetenbuch Amos. An diesem Platz, auf dem sie erschossen wurden, seien Ströme des Bluts geflossen, wo doch Recht und Gerechtigkeit strömen sollen. In Hörweite feiert die Pfingstkirche „Assembleia de Deus“ gerade einen Lobpreis-Gottesdienst – ungerührt von dem Gedenken, das auf dem Platz stattfindet.

Pfingstkirchen haben in Brasilien großen Zulauf. Überhaupt sei die religiöse Mobilität hoch, meint Volz. 42 Millionen der insgesamt 201,5 Millionen Brasilianer gehören laut aktuellen Zahlen den evangelikalen Kirchen an. Unter ihnen sind die Pfingstler mit 27 Millionen Mitgliedern die größte Gruppe. Noch halten 123 Millionen Menschen zu Rom und machen Brasilien zu dem Land mit den meisten Katholiken weltweit. Bei ihrem derzeitigen Zulauf werden die Evangelikalen sie in 15 Jahren überrunden.

Schon jetzt stehen viele Pfingstkirchen für Größe und Erfolg. Protziges Paradebeispiel ist der Tempel Salomos, den die evangelikale Pfingstkirche „Igreja Universal do Reino de Deus“ in São Paulo gebaut hat – 104 Meter lang, 55 Meter hoch, Platz für 10 000 Gläubige. Dagegen war der Tempel des biblischen Königs Salomo eine Schuhschachtel. Wer sich zu dieser „Universalkirche vom Reich Gottes“ zählt, steht auf der Siegerseite. Wer arm ist, hat nicht genug gebetet, so die einfache Antwort auf das Elend. „Die Theologie der Befreiung, die Gottes Option für die Armen und Schwachen als gesellschaftskritischen Impuls hochhält und in die Öffentlichkeit bringt, spielt dort keine Rolle“, sagt Pfarrer Gunter Volz.

Die Krise sei überall sichtbar und hinterlasse ihre Spuren in den Gesichtern der Menschen, stellen Volz und Lewerenz fest. Trotzdem: Hoffnungslosigkeit sei ihnen wenig begegnet. „Der brasilianische Optimismus ist nicht kleinzukriegen.“ Martin Vorländer

Seelsorger begleiten Sportler

Deutsche Sportlerinnen und Sportler bei den Olympischen Sommerspielen und den Paralympics können auf geistlichen Beistand zurückgreifen. Die evangelische und die katholische Kirche schicken im August und September Seelsorger mit nach Brasilien. Bei der Einkleidung des olympischen Teams haben die Athleten auch eine Broschüre mit biblischen Texten, Gebeten und Meditationen bekommen.

„Wer die Anspannung und Hektik der Spiele kennt, weiß, wie wichtig Augenblicke der Ruhe und Besinnung sind, um neue Kräfte zu sammeln“, heißt es in dem Impulsheft „Mittendrin“, das die Teilnehmer der Olympischen Sommerspiele vom 5. bis 21. August und den Paralympics vom 7. bis 18. September in Rio de Janeiro begleiten soll und das als geistliches Trainingsbuch gedacht ist.

Die vier Seelsorger, die die Athleten betreuen, bieten Gottesdienste und Einzelgespräche an. Die beiden evangelischen Pfarrer Thomas Weber aus dem nordrhein-westfälischen Gevelsberg und Christian Bode aus dem nieder­sächsischen Holzminden haben schon Erfahrungen als Olympia-Seelsorger. Der katholische Pfarrer Georg Pettinger ist Pfarrer in der deutschsprachigen Gemeinde in São Paulo, hinzu kommt der katholische Diakon Rolf Faymonville aus dem nordrhein-westfälischen Engelskirchen. epd

Meistgelesene Artikel