Ein neues Kapitel in der Kirchengeschichte wird eröffnet

In der Preußischen Union kann jede Gemeinde eigenständig über ihre Konfession entscheiden • von Martin Schuck

Blick in den Innenraum der Idsteiner Unionskirche: Die ehemalige Stadtkirche erhielt 1917 ihren neuen Namen in Erinnerung an die erste Union in einem Flächenstaat. Fotos: epd

Der in Berlin lehrende Theologe Friedrich Schleiermacher ist der wichtigste Architekt der Preußischen Union.

Das Jahr 2017 ist reich an Jubiläen. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit dominiert der 500. Jahrestag von Martin Luthers Thesenanschlag. Das Lutherjahr lässt kaum Raum für das Gedenken an weitere wichtige Stationen der evangelischen Kirche, die es aber auch wert sind, Beachtung zu finden. So ist das Jahr 1817 ein Schlüsseljahr für die kirchliche Neuordnung Deutschlands nach dem Ende des alten Reichs infolge der Napoleonischen Eroberungen. Die Zusammenschlüsse von Lutheranern und Reformierten im Herzogtum Nassau und im Königreich Preußen eröffneten vor 200 Jahren ein neues Kapitel der Kirchengeschichte.

In den ersten Monaten des Jahres 1817 konnte noch niemand ahnen, welche Dynamik die Unionsbestrebungen in der zweiten Jahreshälfte nehmen würden. In einigen Gebieten des nach dem Wiener Kongress nach Westen expandierten Preußens, aber auch in der Pfalz und Rheinhessen, gab es schon seit der Jahrhundertwende Bestrebungen, die lutherischen und reformierten Gemeinden zu vereinen. Den Anfang machten Simmern im Hunsrück, Meisenheim am Glan, einige Gemeinden rund um den Donnersberg und Saarbrücken. In diesen ab 1793 von Frankreich eroberten Gebieten verweigerten die Behörden allerdings den Vereinigungsbestrebungen die Zustimmung.

Nach dem Ende der französischen Herrschaft dauerte es noch einige Jahre, bis neuer Schwung in die Unionsbestrebungen kam. Den Anfang machten um 1815 einige Saarbrücker Pfarrer. In der ehemaligen Grafschaft Nassau-Saarbrücken gab es erst seit 1743 für die Reformierten volle Religionsfreiheit. In der Folgezeit gab es zwei reformierte Gemeinden in Ludweiler und in Saarbrücken. Die lutherischen Gemeinden, die im stark katholisch geprägten Saargebiet sowieso eine Minderheit bildeten, wurden durch Konsistorien verwaltet. Nach dem Wiener Kongress wurde das Saargebiet preußisch, und die Preußen führten sofort eine neue Kirchenstruktur ein. Die lutherischen Konsistorien wurden zu einer Synode zusammengefasst, wobei die beiden reformierten Gemeinden von der neuen Administration schlicht und einfach übersehen wurden.

Die Geistlichen beider Konfessionen interpretierten diese Lücke als Einladung zur Kirchenunion. Schon im Frühjahr 1817 vereinigten sich die lutherischen und reformierten Pfarrer des Saarbrücker und Ottweiler Bezirks zu einer gemeinschaftlichen Kreissynode. Am 27. August 1817 wurde von Saarbrücker Pfarrern ein Flugblatt veröffentlicht mit dem Titel „Aufruf und Ermunterung an die evangelisch-lutherischen und evangelisch-reformierten Gemeinden in den Bezirken Saarbrücken und Ottweiler zur Wiedervereinigung beider Konfessionen zu Einer unter dem Namen Evangelische Kirche“. In diesem Aufruf wurde betont, dass die beteiligten Pfarrer „dadurch sowohl dem Bedürfnis ihres Geistes und ihres Herzens, als dem Wunsche ihres treuen und geliebten Königs entsprächen, der aus dieser engen und innigen Vereinigung der evangelischen Geistlichen den größten Segen und Gewinn für die Religion selbst erwachsen sieht“. Die Saarbrücker Union kam damit der Kabinettsorder des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III., mit der die Union in ganz Preußen eingeführt wurde, zuvor. Dem König blieb nur, die Bildung der gemeinsamen Kreissynode „mit Anerkennung und Wohlgefallen“ aufzunehmen.

Obwohl die Saarbrücker Union auf Initiative der Pfarrer und nicht der Obrigkeit zustande gekommen ist, war sie nicht die erste Kirchenunion. Bereits Anfang August 1817 war im Herzogtum Nassau auf einer gemeinsamen Synode in Idstein eine Kirchenvereinigung zwischen Lutheranern und Reformierten beschlossen worden. Ausgangspunkt war die Jubelfeier der Reformation im Oktober 1817, zu der Herzog Wilhelm, anders als der preußische König, nicht offiziell aufrufen wollte, um „die Gefühle der Katholiken nicht zu verletzen“; vielmehr wartete man auf das Gesuch des „protestantischen Religionsteils“, um diesem dann stattzugeben.

Anfang Juni 1817 fassten der lutherische und der reformierte Generalsuperintendent einen gemeinsamen Bericht für die nassauische Landesregierung ab, der ein Programm für eine Jubelfeier zum Reformationsjubiläum enthielt. Wenige Wochen später erweiterten sie das Programm dahingehend, dass sie die anstehende Feier als Anlass für eine Kirchenvereinigung nehmen wollten. Sie fragten an, „ob diese herzerhebende Festlichkeit nicht benutzt werden könnte, die äußere Scheidewand wegzuschieben, welche die beiden protestantischen Kirchen des Vaterlandes, unerachtet sie einig im Geiste sind, bisher noch trennte“. Die regierungsamtliche Erlaubnis kam zügig: Am 21. Juli erging eine Ministerialresolution, in der auf „Spezialbefehl Seiner Herzoglichen Durchlaucht“ die beiden Generalsuperintendenten mit der Einberufung einer aus Geistlichen bestehenden Synode nach Idstein beauftragt wurden. Diese tagte vom 5. bis 9. August 1817, und bereits zwei Tage später, am 11. August, erging die herzogliche Bestätigung des Gutachtens der Unionssynode.

In Preußen bereitete zu diesem Zeitpunkt der König ein Konzept für die Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum vor. Noch ein Jahr vorher war unklar, ob 1817 oder doch erst 1839, das Erinnerungsjahr an den Übertritt des Brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. zum evangelischen Glauben, als Jubiläumsjahr gefeiert werden sollte. Im Laufe des Jahres schloss sich Friedrich Wilhelm III. der Meinung der anderen Fürsten an und bestimmte, dass das Erinnerungsjahr an den Thesenanschlag gefeiert werden sollte, und zwar vom 30. Oktober bis zum 1. November. Das Fest sollte „von den beiden evangelischen Konfessionen überall gleichmäßig gefeiert werden … ohne die Mehrzahl der nicht-evangelischen Christen in den einzelnen Provinzen zu beachten“. Für Regionen wie das Rheinland und das Saargebiet wurden damit – entgegen der ausdrücklichen Warnung des preußischen Innenministers Friedrich von Schuckmann – Konflikte mit der überwiegend katholischen Bevölkerung in Kauf genommen.

Persönlich hatte der reformierte Hohenzollernkönig große Sympathie für die Union. Spätestens durch die Nachricht vom positiven Ausgang der Idsteiner Synode reifte bei Friedrich Wilhelm der Entschluss, die Feiern zum Reformationsjubiläum mit einem Aufruf zur Union zu verbinden. Der Hofprediger Friedrich Rulemann Eylert (1770 bis 1852) wurde mit dem Entwurf eines theologischen Textes beauftragt, der dann am 9. Oktober als Kabinettsorder des Königs veröffentlich wurde. Darin wurde die Union als mit dem Wesen des Protestantismus übereinstimmend und als legitime Fortsetzung der Reformation beschrieben.

Der Form nach war Eylerts Text als persönliches Bekenntnis des preußischen Königs zur Union verfasst, das die Gemeinden des Königreichs dazu aufrief, dessen Beispiel zu folgen. Konkret bestand das Beispiel des Königs darin, die Vereinigung der reformierten Hofgemeinde und der lutherischen Garnisonsgemeinde in Potsdam zu verfügen. Bei der Reformationsjubelfeier wurde als Höhepunkt gemeinsam das Abendmahl gefeiert, und alle Gemeinden wurden aufgerufen, sich ebenfalls zu vereinigen und gemeinsam Abendmahl zu feiern.

Vorausgegangen war der Vereinigung der beiden Gemeinden, die der König ohne Presbyterium beschließen konnte, eine Konferenz, die theologische Fragen im Zusammenhang mit der Union klären sollte, vor allem den Ritus des gemeinsamen Abendmahls. Geleitet wurde die Konferenz vom Theologieprofessor Friedrich Schleiermacher (1768 bis 1834), der bisweilen als „Vater der Unionstheologie“ bezeichnet wird. Er war der Autor der „Amtlichen Erklärung“ der Berliner Synode über das am 30. Oktober zum Auftakt der Reformationsfeierlichkeiten zu haltende gemeinsame Abendmahl.

Die erste Unionsschrift Schleiermachers, „Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat“, war 1803 zunächst anonym erschienen. Darin forderte Schleiermacher den Staat auf, die Kirchengemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten zu erklären. Kirchengemeinschaft bedeutete zunächst nichts anderes als die ungehinderte Kommunikantenzulassung beim Abendmahl, das weiterhin nach dem Ritus der jeweiligen Konfession gefeiert werden sollte. Jede Gemeinde konnte also selbst bestimmen, ob sie sich als lutherisch oder reformiert versteht; neu war lediglich, dass die konfessionelle Differenz nicht mehr kirchentrennend wirken sollte.

Nach weiteren Schriften und Vorschlägen für eine Unionsverfassung vertrat Schleiermacher 1817 ein Unionsmodell, das kirchenrechtlich ein gemeinsames Konsistorium für sämtliche Gemeinden vorsah. Für die Kirchenverwaltung war es also gleichgültig, welche konfessionelle Prägung eine Gemeinde hatte. Theologisches Zentrum war die Überzeugung, dass die Lehrunterschiede die Kirchengemeinschaft nicht behinderten und der Rückgriff auf den neutestamentlichen Wortlaut in der Abendmahlsliturgie eine ausreichende Grundlage für die Zulassung jedes Protestanten zum Abendmahl bot.

Weitergehend betrachtete Schleiermacher die Zulassung zum Abendmahl über die Konfessionsgrenzen hinweg als Beseitigung der „letzten Scheidewand“, und deshalb rief er zur Vereinigung der Gemeinden auf der Grundlage des neuen Abendmahlsritus auf. Vorbild war ihm dabei die Herrnhuter Brüdergemeine, der er selbst entstammte und zu der er zeitlebens enge Kontakte pflegte.

Anders als in der Pfalz und in Rheinhessen kam es somit in Preußen zu keiner Konsens- oder Bekenntnisunion auf Landesebene, sondern lediglich zu einer Verwaltungsunion, innerhalb derer Kirchengemeinschaft zwischen lutherischen und reformierten Gemeinden bestand und die Möglichkeit zur Gründung von Unionsgemeinden gegeben war. Somit verdankte die Preußische Unionskirche zwar ihre Entstehung der Kabinettsorder des Königs, aber die inhaltliche Ausgestaltung war jeder Gemeinde selbst überlassen.

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