Unkomplizierte Ökumene leben

Vor 75 Jahren hat Frére Roger die Brüdergemeinschaft Taizé gegründet – In diesem Jahr wäre er 100 Jahre alt geworden

Frère Roger hat vor 75 Jahren die erste ökumenische Ordensgemeinschaft ins Leben gerufen. Fotos: epd (2), wiki (1)

In der Versöhnungskirche in Taizé werden dreimal ­täglich konfessionsübergreifende Andachten gefeiert.

Die „Nacht der Lichter“ ist eine bei jungen Leuten besonders populäre Gottesdienstform.

von Charlotte Seeger

Eine Gemeinschaft, die in Bescheidenheit und Brüderlichkeit zusammenlebt und -betet: Frère Roger, evangelischer Theologe und überzeugter Ökumeniker, erfüllte sich mit der Gründung der „Communauté de Taizé“ vor 75 Jahren einen Lebenstraum und setzte damit ein Zeichen für eine ehrliche und unkomplizierte Ökumene. Vor 100 Jahren wurde Frère Roger geboren, vor zehn Jahren erlag der Gründer der ersten ökumenischen Ordensgemeinschaft 90-jährig den Folgen eines Attentats.

Am 12. Mai 1915 erblickte Roger Louis Schutz-Marsauche als Sohn eines reformierten Pfarrers und einer Französin in dem kleinen Dorf Provence in der Französischen Schweiz als jüngstes von zehn Kindern das Licht der Welt. Gelebte Ökumene kannte Roger bereits aus seiner Kindheit, denn er wurde von einer katholischen Witwe erzogen, was im frühen 20. Jahrhundert ein für die Gesellschaft noch unerhörter Zustand war. Sein Vater betete regelmäßig in der katholischen Dorfkirche.

Ein Schlüssel zu seiner ökumenischen Berufung war für Roger das Engagement seiner Großmutter mütterlicherseits. Im Norden Frankreichs machte Marie-Louise Marsauche-Delachaux während des Ersten Weltkriegs ihr Haus zu einem Zufluchtsort für Flüchtlinge, insbesondere für Kinder und schwangere Frauen. Sie habe nie verstanden, warum sich Christen untereinander bekämpften, erinnerte sich Roger. Sie setzte sich daher zeit ihres Lebens für ein besseres Verständnis zwischen den Konfessionen ein. Auch ging sie regelmäßig zum katholischen Gottesdienst.

Rogers Kindheit war von einem großen Gottvertrauen geprägt, doch im Alter von elf Jahren erlebte er eine Glaubenskrise. „Ich zweifelte nicht an der Existenz Gottes, sondern daran, dass es möglich sei, Gemeinschaft mit ihm zu haben. Es war, als sei ich nicht mehr imstande zu beten“, schrieb Roger in seinem Buch „Gott kann nur lieben“ aus dem Jahr 2002. Außerdem beunruhigte ihn das mangelnde gegenseitige Verständnis beider christlicher Konfessionen.

Einige Jahre später erkrankte er schwer an Tuberkulose. In den langen Jahren seiner Krankheit, den Tod ständig vor Augen, beschäftigte er sich viel mit sich selbst und dem Glauben. Ihm wurde bewusst, dass er erst innerlich heilen müsse, um körperlich gesund zu werden. Diese innere Heilung bezog er auf ein wiedergewonnenes Vertrauen zu Gott. Mit 17 Jahren fand Roger wieder zurück zur Glaubensfaszination seiner Kindheit.

Die Entscheidung, Theologie zu studieren, traf trotz des eigenen tiefen Glaubens sein Vater für ihn. Von 1936 bis 1940 studierte er an den Universitäten Lausanne und Straßburg Theologie, allerdings mit wenig Begeisterung. Schon während des Studiums sammelte er lieber Gleichgesinnte zum Gebet um sich. Gespräche mit katholischen Glaubensbrüdern inspirierten ihn, und er verbrachte bewusst einige Zeit in katholischen Klöstern. Das waren Erfahrungen, die seinen Wunsch nach einer monastischen Gemeinschaft gestärkt hätten, berichtet Roger in seinen Tagebuchaufzeichnungen.

Eine sichere Karriere als Pfarrer war ihm nicht genug. Also schwang er sich stattdessen 1940 in den Fahrradsattel, um in der burgundischen Heimat seiner Mutter nach einem Ort zu suchen, an dem eine Gemeinschaft der christlichen Versöhnung entstehen könnte. „Ich war betroffen von der Vorstellung, dass sich alle Christen auf denselben Gott berufen, aber dennoch getrennt bleiben, sich sogar gegenseitig verletzen“, erklärte Roger anlässlich seines 90. Geburtstags im Jahr 2005 und erinnert sich weiter: „Ich war auf der Suche nach einem Haus für ein gemeinschaftliches Leben mit Gebeten und Gastfreundschaft.“

Fündig wurde er im kleinen Ort Taizé. Der 25-jährige Roger erwarb mit einem kleinen Darlehen ein altes Herrenhaus. Sein neues Zuhause, das direkt an der Demarkationslinie zwischen dem deutsch besetzten Frankreich und den französischen Truppen des freien Südens gelegen war, nutzte er, um gemeinsam mit seiner Schwester Geneviève Flüchtlinge zu betreuen. 1942 musste Roger wegen einer drohenden Verhaftung nach Genf fliehen. Dort scharte er seine ersten Brüder um sich, die ihm 1944 zurück nach Taizé folgten. Auch nach dem Krieg kümmerte er sich um Flüchtige, sehr zum Ärger der Anwohner. Denn diese Hilfesuchenden waren deutsche Kriegsgefangene.

Immer mehr Brüder schlossen sich der zunächst protestantischen Gemeinschaft an. Am Osterfest 1949 legten die ersten sieben Brüder ein Gelübde ab, welches das gemeinsame Leben in Gütergemeinschaft, Keuschheit und Gehorsam beinhaltet. Im Winter 1952/53 verfasste Frère Roger die Regel von Taizé, in der er für seine Brüder das Wesentliche zusammenfasste, „das ein gemeinsames Leben erst möglich macht“. Im Jahr 1969 stieß mit der offiziellen Erlaubnis des Erzherzogs von Paris das erste katholische Mitglied zur Gruppe hinzu. Roger entdeckte für sich, dass sein Christsein sich erst „im Zusammenfluss mit der katholischen Theologie“ richtig entwickelte.

Die „Communauté de Taizé“ ist die erste ökumenische Ordensgemeinschaft der Kirchengeschichte. Die Brüder verdienen ihren Lebensunterhalt ausschließlich selbst. Sie verzichten sogar auf ihre Erbschaften. Zur Gemeinschaft gehören heute mehr als 120 Brüder aus über 25 Nationen. Darunter befinden sich Katholiken, Mitglieder verschiedener evangelischer Kirchen, Anglikaner und Angehörige orthodoxer Kirchen. Nach dem Tod des Gründers, der 2005 von einer psychisch kranken Rumänin erstochen wurde, übernahm der katholisch getaufte Frère Alois die Leitung der Brüdergemeinschaft.

Noch immer ist das zentrale Anliegen von Taizé die Versöhnung und der gemeinsame, konkret gelebte Weg der Christen in der Welt. Die Brüder und mittlerweile wöchentlich Tausende von Gästen treffen sich dreimal täglich zum gemeinsamen Gebet, Gesang und Hören auf Gottes Wort in der Versöhnungskirche von Taizé. Dort sitzen oder knien die Teilnehmer auf dem Boden. Das Licht ist von Kerzenschein geprägt, ein großes, buntes Kreuz steht im Mittelpunkt des Raums. Orangefarbene Bänder zieren den sonst sehr einfach gehaltenen Raum und hüllen ihn in ein sanftes, aber lebendiges Licht.

Charakteristisch für einen Taizé-Gottesdienst sind die Lieder, die mittlerweile auf der ganzen Welt bekannt sind. Die Liedtexte basieren meist auf einer Bibelstelle, sind oft in lateinischer, aber auch in vielen anderen Sprachen verfasst. Frère Roger war von der besonderen Wirkung der Musik im Gottesdienst überzeugt: „Es kommt sehr darauf an, dass die Gottesdienste die anbetungswürdige Gegenwart des Auferstandenen ahnen lassen, insbesondere durch die Schönheit der Lieder und Gesänge.“ Gemäß einer Untersuchung ist eine solche musikalisch untermalte Taizé-Andacht für junge Menschen besonders attraktiv. Diese Gottesdienstform wird von Jugendlichen am häufigsten besucht.

Daher verwundert es nicht, dass die kleine Ortschaft in Burgund gerade Jugendliche in Scharen anzieht. 1966 fand dort das erste Jugendtreffen mit 1400 Jugendlichen aus 30 Ländern statt. Bis heute pilgern nach Angaben von Renatus Keller, Pfarrer der hessen-nassauischen Kirchengemeinde von Lorsch, jährlich bis zu 200 000 Menschen, größtenteils Jugendliche aus aller Welt, an diesen Ort.

„Da ist richtig was los“, berichtet der taizébegeisterte Theologe. Schon zwölfmal sei er dort gewesen. Für Erwachsene wie Jugendliche sei es eine prägende Zeit, die ihnen die Möglichkeit gebe, über das Leben und den Glauben nachzudenken. „Auch junge Menschen empfinden die Zeit in Taizé als bereichernd“, weiß der Lorscher Pfarrer aus Erfahrung. Langeweile oder Widerwillen, die dreimal täglich angesetzten Gottesdienste zu besuchen, gebe es so gut wie nie. Die Möglichkeit, neue Freundschaften zu schließen, sich international und multikulturell auszutauschen, mache eine Fahrt für Jugendliche besonders attraktiv.

Die „Nacht der Lichter“ ist bei jungen Leuten besonders populär und wird vielerorts mit zahlreichen Besuchern gefeiert. Die Bezeichnung bezieht sich auf die in Taizé jeden Samstagabend stattfindende Lichterfeier, in der der Auferstehung Jesu Christi gedacht wird. Jeder Besucher erhält am Eingang eine Kerze, die im Verlauf des Gebets während des Gesangs der Reihe nach entzündet wird.

Markus Trick, Jugendreferent im pfälzischen Dekanat Homburg, kann dies nur bestätigen. „In Taizé kann man zur Ruhe kommen und sich ganz auf sich und Gott konzentrieren“, sagt Trick, der auch für den Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM) in Sankt Ingbert zuständig ist. Am Ökumenischen Kirchentag an Pfingsten in Speyer hält er einen Taizé-Gottesdienst ab. Außerdem bewundere er die unkomplizierte Ökumene, die an diesem Ort herrsche. Sein Kollege Renatus Keller fügt hinzu: „Nirgendwo anders wird Ökumene überzeugender gelebt als in Taizé. Dieser Ort macht Hoffnung!“

So selbstverständlich wie in Taizé ist die Ökumene in den christlichen Kirchen nicht. In der Pfalz soll ab Pfingsten ein ökumenischer Leitfaden zur besseren überkonfessionellen Zusammenarbeit beitragen. Mit dem Speyerer Kirchentag soll dieser besiegelt, die Einigkeit der pfälzischen Christen demonstriert und in die Gemeinden hineingetragen werden. Die christlichen Kirchen bemühen sich darum, den ökumenischen Gedanken umzusetzen, und die „Communauté de Taizé“ geht seit 75 Jahren mit bestem Beispiel voran. Frère Roger hat für sich und seine Brüder einen Weg zur Versöhnung der Konfessionen gefunden.

Meistgelesene Artikel