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08.12.2011

Teilesuche für hebräisches Puzzle

Mainzer Wissenschaftler erforscht mittelalterliche Einbandfragmente – Zeugen des jüdischen Lebens


Makulatur: Professor Andreas Lehnardt zeigt eine Hochzeitsurkunde von 1773. Foto: epd

Makulatur: Professor Andreas Lehnardt zeigt eine Hochzeitsurkunde von 1773. Foto: epd

Für die Nachwelt bewahrt: Armin Schlechter von der Landesbibliothek in Speyer präsentiert Einbandfragmente. Foto: Landry

Für die Nachwelt bewahrt: Armin Schlechter von der Landesbibliothek in Speyer präsentiert Einbandfragmente. Foto: Landry

Sie liegen versteckt in den Archiven, eingeklemmt zwischen Büchern. Meist werden sie durch Zufall entdeckt, wenn man ein Werk aus dem Regal zieht: Mittelalterliche jüdische Handschriften aus vergilbtem Pergament, die – zerschnitten – zwischen 1500 und 1700 als Buchdeckel und als Bindematerial benutzt wurden. Der Mainzer Judaistikprofessor und evangelische Theologe Andreas Lehnardt spürt seit einigen Jahren gemeinsam mit einem kleinen Forscherteam in deutschen Bibliotheken und Archiven den Zeugnissen der jüdischen Kultur nach.

„Genizat Germania“ heißt das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekt, das zum Ziel hat, die in ganz Europa verstreuten Handschriftenfragmente zu sammeln, um die „jüdische Bibliothek“ des Mittelalters zu rekonstruieren. „Wir wollen das hebräische Puzzle zusammensetzen“, erläutert der 46-jährige Wissenschaftler. Die Handschriften gäben spannende Einblicke in das alltägliche Leben der Juden in jener Zeit. Die Forschungsergebnisse sollen in Katalogen, einer Datenbank und einem Buch veröffentlicht werden.

Mit den Handschriftenfragmenten werde eine bisher verborgene Wissensquelle über das aschkenasische, das mittel- und osteuropäische Judentum des Mittelalters, erstmals wissenschaftlich erschlossen, erläutert Lehnardt. Der Gebrauch von biblischen Schriften, Bibel-Kommentaren sowie Rechts- und Gebetsbüchern sage viel über Leben und Kultur der jüdischen Gemeinden aus. Mehr als 500 Fragmente – von großformatigen Pergamentbögen bis zu kleinen Schnipseln – haben die Forscher von der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität bisher gefunden.

Auch Dokumente wie Kaufverträge oder Hochzeitsurkunden in jüdischer Sprache erzählten, wie die Juden in der christlichen Mehrheitsgesellschaft des Mittelalters lebten, sagt Lehnardt, der eng mit Forschern aus Europa und Israel zusammenarbeitet. In Gebetsbüchern werde berichtet von Verfolgung und Pogromen, etwa während der Zeit der Kreuzzüge.

Die Funde belegten auch, dass die Juden in den rheinischen Schum-Städten Speyer, Mainz und Worms, einem Zentrum des europäischen Judentums, über Jahrhunderte mit traditionellen Texten gelebt und gearbeitet hätten. Auch unbekannte hebräische Schriften aus der Spätantike und dem Mittelalter, darunter ein Kommentar zum biblischen Buch Esther, seien entdeckt worden, berichtet Lehnardt. Tausende Handschriften wurden mit der Erfindung des Buchdrucks um 1500 für ihre Besitzer zur Makulatur: Sie waren veraltet, hatten ihren Zweck verloren.

Oft wurde nur das wertvolle Schreibmaterial Pergament wiederverwendet, indem die Tintenschrift „rasiert“ wurde. Oder die Handschriften dienten zurechtgeschnitten als Bucheinbände oder Bindematerial für Buchrücken. Sie wurden verkauft oder bei judenfeindlichen Angriffen geraubt und danach von ihren neuen christlichen Besitzern zerstört.

Mitschuld für die Zerstörung der Handschriften treffe auch die Reformation, klagt Lehnardt. Die Luther-Anhänger lösten vielerorts die Klöster auf, „die Buchbestände wurden in alle Winde zerstreut“. Zahlreiche Bibliotheken wurden geplündert und die Buchbestände ruiniert. Der Großteil jüdischer Handschriftenfragmente stamme dennoch aus Klosterbeständen, vor allem aus Trier, Mainz und Frankfurt, sagt Lehnardt. Grund hierfür sei, dass manche kirchliche Archive ihre jüdischen Buch- und Handschriftenschätze vor dem Zugriff der Nazis bewahrten, die alle Archive und Bibliotheken von jüdischen Spuren „säubern“ wollten.

„Heute haben wir nur einen ­Bruchteil dessen, was es an jüdischen ­Handschriften gab“, bilanziert Armin Schlech­ter, Leiter der Handschriftenabteilung der Pfälzischen Landesbibliothek in Speyer. Nur drei Fragmente, darunter ein Talmud-Kommentar, kann er vorzeigen. Die meisten Fragmentfunde entstammten christlich-liturgischen Handschriften, etwa veralteten Messbüchern.

Erst die Humanisten des 16. Jahrhunderts hätten ein Bewusstsein für den antiquarischen Wert der alten Handschriften entwickelt und sie gesammelt, sagt Handschriftenexperte Schlechter. Besonders während des Dreißigjährigen Krieges (1618 bis 1648) seien viele Handschriften vernichtet worden – auch viele jüdische Gemeinden erloschen in dieser Zeit.

Das Thema Handschriftenfragmente sei für viele Juden sehr emotional besetzt, weiß Andreas Lehnardt. Bibliotheken und Archive sollten alle Dokumente zurückgeben, die nachweislich geraubt wurden, appelliert er. Juristisch gehörten die Fragmente jedoch den jeweiligen Archiven und Bibliotheken. Vor Rückforderungen von jüdischer Seite müssten diese sich nicht fürchten: „Groß ist in Israel vielmehr das Interesse an einer gemeinsamen Aufarbeitung der Geschichte.“ Alexander Lang

www.genizatgermania.uni-mainz.de