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Tastend auf festem Grund

Der Christ der Zukunft, so heißt es in einem vielzitierten Wort des großen katholischen Theologen Karl Rahner, werde ein Mensch sein, der etwas erfahren hat. Und alles spricht dafür, dass er Recht damit hatte... Glaube lebt von einer lebendigen und glaubwürdigen Spiritualität... Die Protestanten von heute sind auf dem besten Wege, den lange vernachlässigten „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ -  nach Friedrich Schleiermacher das Wesen der Religion - neu zu entdecken. Die große „Themenhalle Spiritualität“ auf dem 30. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover, Tagungen und Publikationen zum Thema „Evangelische Spiritualität“ oder auch die Wiederentdeckung Taizés als protestantische Bewegung weisen in diese Richtung.
Nun sieht sich der zeitgenössische Protestantismus freilich nicht einfach nur mit einer Konjunktur des Spirituellen konfrontiert. Vor dem Hintergrund eines zunehmenden Interesses an Identität und Profil verbindet sich für ihn damit die Herausforderung, dem Spirituellen ein eigenes Gepräge verleihen zu wollen. Kirchliche Verlautbarungen betonen die Wichtigkeit einer Unterscheidung der Geister: Eine spezifisch protestantische oder evangelische Spiritualität wird gefordert. Sie soll Konturen aufweisen, die es erlauben, sie von dem allzu Vielen abzugrenzen, das auf dem großen Markt der spirituellen Angebote feilgeboten wird. Allein: Diese Unterscheidung fällt nicht leicht. Einerseits droht die Versuchung, einfach allem das Label „protestantische Spiritualität“ aufzukleben, was seit Jahr und Tag in evangelischen Kirchen stattfindet und dabei immer weniger Menschen erreicht. Andererseits muss man sich davor hüten, unterschiedslos spirituelle Versatzstücke verschiedener Couleur zu vereinnahmen. Um beiden Gefahren zu wehren, wird sich der Protestantismus nicht der Mühe entziehen können, ohne dem Zeitgeist zu erliegen, ein zeitgemäßes Verständnis dessen zu entwickeln, was man künftig als eigene Spiritualität leben, fördern und kultivieren möchte. Was also ist „protestantische Spiritualität“? ...
Will man verstehen, was es mit dem Protestantismus auf sich hat, ist man immer noch gut beraten, sich mit Paul Tillichs Definition des „protestantischen Prinzips“ zu befassen: Das „protestantische Prinzip“, schreibt er, „dessen Namen sich von dem Protest der Protestanten gegen die Entscheidung der katholischen Mehrheit ableitet, enthält den göttlichen und menschlichen Protest gegen jeden absoluten Anspruch, der für eine bedingte Wirklichkeit gegeben wird“. Protestantismus in diesem Sinne ist eine Kulturform, die sich aus ihrem Widerstand gegen Dogmatismus, Ideologie und Fundamentalismus herleitet. Er ist ein „Wächter gegen die Versuche des Endlichen und Bedingten, sowohl im Denken als auch im Handeln, sich zur Würde des Unbedingten zu erheben“. ...Der Protestantismus beruft sich dabei auf den Jesus von Nazareth der Evangelien, der selbst mit protestantischer Verve gegen religiöse Absolutheitsansprüche auftrat. Unter anderem darin ist der Protestantismus evangelisch. Der Protestantismus weiß dabei aber auch um die unabänderliche Interpretationsbedürftigkeit des Evangeliums, dessen Wahrheit sich in keiner Auslegung und dogmatischen Aneignung (und sei es dem Beharren auf ein wörtliches Verständnis) erschöpfen kann. Weil auch die Offenbarung eine endliche Gestaltwerdung des unendlichen Gottes ist, stellt der Protestantismus jede etablierte Interpretation des offenbar geworden Gottes in Frage, wobei es das Evangelium ist, das seinem Fragen die Richtung weist und den Horizont gibt. Dieses In-Frage-Stellen richtet der Protestantismus konsequenterweise auch auf sich selbst. Die Gestalt, in der er sich von der Reformationszeit bis in die Gegenwart ausgeprägt hat, ist nicht mehr und nicht weniger als eine, so Tillich, „besondere geschichtliche Verkörperung“ des protestantischen Prinzips und diesem deswegen am Ende selbst unterworfen: Der Protestantismus selbst ist dazu angetan, in die protestantische Kritik genommen zu werden, wo er sich institutionalisiert, verfestigt, verabsolutiert. Von hier aus lässt sich nun skizzieren, welche Merkmale eine spezifisch protestantisch-evangelische Spiritualität auszeichnen müssen: Sie wird eine fragende, ja tastende Spiritualität sein müssen - eine Spiritualität, die keine dogmatischen Festlegungen und absoluten Setzungen duldet. Sie wird eine Spiritualität sein, der es vor allem darum geht, Erfahrungsräume zu öffnen- Räume, in denen Sinn und Geschmack für das Unendliche gepflegt werden. Deswegen wird sie auch eine Spiritualität des Durchkreuzens sein – eine Spiritualität, die die Stille hinter allen Worten sucht und die Wege beschreiten darf, die jenseits von Traditionen verlaufen. Dabei rnuss sie nicht vor einer Wiederentdeckung des Körperlichen zurückschrecken, wie sie in der spirituellen Bewegung der Gegenwart allgegenwärtig ist. Entscheidend wird sein, dass sie dazu angetan ist, die alltägliche Oberflächendynamik des Lebens - auch des kirchlichen - zu beruhigen, um Zeit zum Innehalten zu gewähren und so einen Raum für die Erfahrung der Wirklichkeit Gottes zu öffnen. Innehalten und Öffnen - das sind die zentralen Qualitäten protestantischer Spiritualität.
Evangelische Spiritualität wird sie darüber hinaus sein, wo sie sich die Richtung ihres Fragens und Tastens vom Evangelium Christi weisen lässt. Das Evangelium ist ihr Fundament und Korrektiv, das sie davor bewahrt, in unverbindliche Beliebigkeit abzugleiten. Im Rahmen evangelischer Spiritualität wird das Evangelium Stil, Gestalt und Farbe spiritueller Praktiken prägen.  Die Rezitation hinduistischer Mantren hat in ihr sicher keinen Ort, das orthodoxe, an Christus gewandte Herzensgebet dagegen durchaus. Und wenn das Evangelium der Deutung und Interpretation spirituellen Erfahrens seine Richtung gibt, dann wird es beim „Sitzen in der Stille“ eben nicht darum gehen, den Satori-Zustand des Zen zu erlangen, sondern in die Wirklichkeit des von Jesus gepredigten Reiches Gottes einzutreten. So verstanden ist die Stille gerade in ihrer tastenden Offenheit für die Erfahrung des Gottes des Alten und Neuen Testaments bestens geeignet,  ein Herz- und Kernstück protestantisch - evangelischer Spiritualität zu sein.
Dies umso mehr, als die Erfahrung lehrt, dass genau jene Spiritualität des Innehaltens viele junge Christen im Herzen berührt. Ob nun das Weltjugendtreffen oder der Kirchentag: längst hat sich das Gebet à la Taizé als eine Gestalt der Spiritualität herausgeschält, die unzähligen Menschen zur geistlichen Heimat geworden ist. Für den um sein Profil bemühten Protestantismus ist dies ein Geschenk des Himmels. Denn mit ihrer tastenden Innerlichkeit, ihrer schlichten Körperlichkeit und stillen Einfachheit ebenso wie mit ihrer unverkennbar evangelischen Grundierung weist die Spiritualität von Taizé alle Charakteristika auf, die eine authentische und dabei zeitgemäße protestantische Spiritualität auszeichnen müssten. Gut beraten ist, wer hier Maß nimmt, wenn er sich um das spirituelle Profil des Protestantismus bemüht. Denn hier ist eine spirituelle Bewegung, die dazu angetan ist, ihm das lange vernachlässigte Herz aufgehen zu lassen.
         
(Christoph Quarch, Pfälzisches Pfarrerblatt; bearbeitet durch Fred Schneider-Mohr)